Du bist, was du liest - Sapir-Whorf und sprachlicher Einfluss

Die Art wie wir sprechen bestimmt, wie wir denken

Aktuell zirkuliert ein Video von Mayim Bialik durchs Netz, in dem sie die Auswirkung der Verwendung des Begriffes “Mädchen” für Frauen thematisiert. Der dem zugrunde liegende Gedanke wurde in der Sapir-Whorf-Hypothese zusammengefasst und besagt sinngemäß: Die Art wie wir sprechen bestimmt, wie wir denken. Seit jeher ist diese Hypothese umstritten. Unter anderem behauptet sie streng genommen auch, man könne Gedanken und Wörter aus anderen Sprachen nicht vollends verstehen. Eine richtige fremdsprachliche Übersetzung sei demnach unmöglich. Andererseits spricht vieles dafür, dass eine Wechselwirkung zwischen Wortwahl und Denkweise besteht.

 

Ja, aber...

Doch selbst in der eigenen Sprache gibt es “Übersetzungsschwierigkeiten”. Das berühmte “ja, aber” und sein bester Freund “eigentlich” werden mittlerweile gemeinhin als heimliches “nein” enttarnt. - Hier wird “nein” gedacht und das gesagte “ja” nachträglich relativiert. Andersrum wird ein gesagtes “nein” leider auch als “ja” ausgelegt, weil der Empfänger des Neins seine eigenen Gedanken (das kann er/sie nicht so gemeint haben) über die Aussage des Senders stellt. Was sagt uns das? - Wir brauchen in bestimmten Situationen Sprachgepflogenheiten, die zweifelsfrei sind. Die Vertauschung von ja mit nein und umgekehrt kann gravierende Folgen haben. Am wenigsten Zweifel an der eigenen Aussage erfährt man, wenn man ja und nein konsequent und klar äußert. Ehrlich, ohne Wenn und Aber.

 

Euphemismen: Von alternativen Fakten und Hopfensmoothies

Häufig als Beispiel für die Gültigkeit der Sapir-Whorf-Hypothese herangezogen wird die politische Sprache. Die Taktik: Schlimmes wird durch Sachliches relativiert und dadurch akzeptabel - und umgekehrt: Lügen werden alternative Fakten und Fakten werden relativiert zu Halbwahrheiten, Spekulationen oder Meinungen. In diesem Fall impliziert die Sprache zudem einen Handlungsaufruf und liefert die Legitimation gleich mit (denn Fakten sollte man glauben und Halbwahrheiten nicht).

Sprache ist immer eine Interpretation von Gegebenheiten. Doch Euphemismen können schleichend Einfluss auf die Wahrnehmung dieser Gegebenheiten nehmen. So spricht “sozial schwach” einem Menschen etwas mehr ab, als nur finanziellen Wohlstand. Sozial schwach bedeutet wörtlich, dass einem Menschen soziale Kompetenzen - wie Empathie oder Rücksichtnahme - fehlen, obwohl es “nur” an Geld mangelt. Im Umkehrschluss werden dem sozial Starken diese Kompetenzen zugetraut. Beide Implikationen kommen nur aus der Wortwahl und wirken unbewusst, ohne empirische Grundlage.

 

Kleine Beispielsammlung

Dass Euphemismen auch gesamtgesellschaftlich sehr beliebte Mittel der (unbewussten) Manipulation sind, zeigt sich teils traurig, teils lustig in vielen Begriffen:

Bildungsfern statt ungebildet, Freistellung des Mitarbeiters statt Entlassung, Alleinerbe statt Einzelkind, flexibel im Bezug auf Wahrheit oder Moral statt unehrlich und unmoralisch, Arbeitnehmer für den Arbeitskraftgebenden, extravagant oder egozentrisch statt unsozial oder egoistisch, Herausforderung statt Problem, Hopfensmoothie statt Bier, Liebeshenkel statt Rettungsring statt Hüftspeck, 18 mit 32 Jahren Erfahrung statt 50. Mehr davon gibt es bei Unangenehmes Schönreden.

 

Versteck für Vorurteile: Der Witz

Wie unsere Assoziationen zu Wörtern in einer Sprache oder einem Kulturraum funktionieren, wird auch an Witzen deutlich. Er kann nämlich nur verstanden werden, wenn ein einheitliches Denken zu bestimmten Themen vorliegt oder bekannt ist: Ein Comic zeigt den germanischen Gott Thor - bärtig, muskelbepackt und gerüstet. Darunter steht seine Frage: “Allah? - Nie von ihr gehört.” Dieser Scherz kann auf mehreren Ebenen ausgelegt werden. Erstens soll Thor als überlegen dargestellt werden, da Allah ihm unbekannt und damit unwichtig ist. Zweitens können die Götter als Stellvertreter ihres jeweiligen Kulturraums verstanden werden. Die Aussage auf erster Ebene kann dadurch auf die beiden Kulturen ausgeweitet werden. Drittens wird als Mittel der Herabstufung die Verweiblichung Allahs gewählt. Dies funktioniert nur, weil Weiblichkeit problemlos als Synonym für Schwäche verstanden wird.

 

Du bist, was du liest

Zu guter Letzt lässt sich auch das sprachliche Abfärben beobachten. Nicht nur Dialekte und Fremdsprachen übernehmen wir nach längerem Kontakt. Auch Stimmung, Wortwahl, Satzlänge, Ironie oder Ernsthaftigkeit und Verschachtelung - kurz Niveau und Stil - lesen bzw. hören wir uns ab. Jugendsprache, Fachsprache und Milieusprache sind Beispiele dafür. Wer überwiegend FAZ und SZ liest, drückt sich meist anders aus als derjenige, der ausschließlich Bild und Express konsumiert. Wer Poesie bevorzugt, spricht meist blumiger als ein Leser ausschließlich juristischer Texte. Sprache schafft Räume in denen sich die finden, die sie verständlich miteinander sprechen können. Wir können also selbst steuern, wie wir denken wollen, indem wir besonnen abwägen, was wir lesen und anhören.

 

Informationsblasen platzen lassen

Algorithmen halten uns in Informationsblasen, weil sie unter anderem unsere Sprache auswerten. Gleichzeitig prallten nie zuvor so viele verschiedene Sprachräume ungebremst aufeinander, wie heute. Wir sehen die Folgen an Streitereien auf Facebook, Shitstorm-Wellen, Trollen und Hatern. Eine wichtige Erkenntnis daraus ist: Gleiches Gedankengut erreicht uns automatisch durch die Informationsblase. Auf anderes Gedankengut treffen wir, wenn wir aktiv danach suchen (die Trolle wissen das längst). Wer also öfters aktiv nach dem Unbekannten sucht oder fischt, erweitert sein Sichtfeld, seinen Sprachraum, sein Gedankengut. Man muss nicht übernehmen, was andere denken. Aber man kann wahrnehmen, wie vielfältig die Welt außerhalb der Blase ist, wenn man sie ab und an zum platzen bringt.

 

Über den Tellerrand blicken, ähm, sprechen

Auch wenn die Sapir-Whorf-Hypothese nicht eindeutig belegt ist, so sollte uns das bisherige Wissen anspornen und Mut machen. Wer über seinen Tellerrand blicken möchte, kann dies mittels Sprache tun. Die Kenntnis von Fremdwörtern oder Fremdsprachen eröffnet den Zugang zu weiterem Wissen. Die Kenntnis von sozialer oder altersspezifischer Sprache eröffnet den Zugang zu mehr Empathie und Verständnis für Mitmenschen. Das Bewusstsein für auf- oder abwertende Sprachverwendung ermöglicht die Vermeidung unzähliger Konflikte und das Erleben vieler schöner Begegnungen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0